Von Gitterschleichern, Geständnisbegleitern und Wegduckern – „Phänotypen“ des Pflichtverteidigers im deutschen Strafprozess

von Rechtsanwalt Christoph Rühlmann aus Düren, zugleich Fachanwalt für Strafrecht
erschienen in der DNS 04/2017

Blessing, 24 Jahre, (Name, biografische und prozessuale Details wurden geändert) stammt aus dem Nordosten Nigerias, dem Armenhaus des Landes ,das in jüngerer Zeit wieder traurige Schlagzeilen machte, weil eine Hungersnot tausende Kinder ihr Leben kostete und die islamische BokuHaram Sekte regelmäßig Gräueltaten verübt. Ihre Eltern waren fromme Christen , die ihren 7 Kindern christliche Namen gaben, so wie dies in Nigeria nicht unüblich ist. Ihrer ältesten Tochter gaben sie den Namen „Blessing“. („die Gesegnete“).
Das Leben, das Blessings Familie hatte, war in den letzten Jahren aber das genaue Gegenteil eines Segens gewesen. Fast schien es, als habe die Familie einen Fluch auf sich gezogen. Zuerst verstarb der Vater, der seit Blessings Kindheit im entfernten Lagos als Taxifahrer gearbeitet hatte, bei einem Verkehrsunfall. Drei Jahre später erlag die Mutter an Gebärmutterkrebs. Fortan musste sich Blessing zusammen mit einer Tante, die selbst unter der Trunksucht und dem Jähzorn ihres zweiten Ehemannes litt, um die Versorgung der jüngeren Geschwister und den gesamten Haushalt kümmern. Man hatte eine kleine Landwirtschaft und Blessing arbeitete nachts noch in einer Fabrik am nahegelegenen Maiduguri. Bis die Fabrik irgendwann unwirtschaftlich arbeitete und von einem auf den anderen Tag geschlossen wurden. Es kam die Zeit, dass sich Blessings jüngere Geschwister vor Hunger nachts in den Schlaf weinten.

Unter solcherlei Bedingungen reagieren Menschen manchmal irrational und lassen sich auf Dinge ein, die sie sonst niemals täten. Und so war es wohl diese Melange aus blanker Not, Verzweiflung und Überlebenswillen, weshalb sich Blessing zum Werkzeug eines Drogenschmuggels machen ließ. Sie wurde von Finsterlingen, denen ihre Not nicht verborgen blieb, dazu überredet 400 Gramm Kokain, verpackt in einer Vielzahl von Plastikkapseln, zu schlucken und als sogenannter „Bodypacker“ mit einem Linienflug von Lagos nach Italien zu bringen. Ein lebensgefährliches Unterfangen, denn wenn sich auch nur eine der geschluckten Kapseln während des Flugs im Magen öffnet, ist der Tod fast unvermeidbar.
„Bodypacker“ stehen an unterster Stelle in der Kette des Drogenschmuggels und riskieren für ein paar hundert Dollar Kurierlohn Leben und Freiheit, so wie Blessing, die im Transitbereich des Frankfurter Flughafens von den routinierten Zollbeamten beim Zwischenstopp ausgespäht wurde. Röntgenaufnahmen bestätigten den Verdacht bald und nachdem die Drogen unter ärztlicher Aufsicht ausgeschieden wurden, fand sich Blessing in Untersuchungshaft in einer hessischen Frauenhaftanstalt wieder.
Mich erreichte ihr Brief, mit dem sie um Übernahme ihres Mandats bat, nachdem sie sich bereits acht Wochen in Untersuchungshaft befand und von ihrem Pflichtverteidiger bis dahin noch nicht ein einziges Mal dort aufgesucht wurde.
„Was ist eigentlich ein Pflichtverteidiger?“, ist eine häufige Frage, die mir immer wieder gestellt wird. Die meisten Rechtslaien glauben, dass dem Pflichtverteidiger die „Pflicht“ zur Verteidigung vom Gericht auferlegt wird, ohne dass er hierauf Einfluss hätte oder sich weigern könnte die Verteidigung zu führen. In der täglichen Praxis ist der Fall, dass ein Anwalt quasi gegen seinen Willen zur Verteidigung eines Beschuldigten herangezogen wird, so gut wie nicht existent. Theoretisch ist dies zwar möglich, wird aber so nie praktiziert. Jeder Ermittlungsrichter wird den Anwalt, den er als Pflichtverteidiger beigeordnen möchte, zuvor fragen, ob er bereit ist, die Verteidigung zu übernehmen. Die Vorstellung, ein Anwalt könne also gegen seinen Willen, beispielsweise zur Verteidigung eines Kindermörders, herangezogen werden, geht fehl.

In welchem Fällen ein Pflichtverteidiger beigeordnet wird, bestimmt das Gesetz. Richtiger gesagt, handelt es sich um einen „notwendigen Verteidiger“, da die Bestellung zum Pflichtverteidiger in Fällen der „notwendigen“ Verteidigung erfolgt. Notwendig ist das Mitwirken eines Verteidigers im Strafverfahren, wenn Untersuchungshaft vollstreckt wird und/oder eine Freiheitsstrafe ab einem Jahr Gefängnis droht. Auch wenn der Beschuldigte sich aus bestimmten Gründen nicht selbst verteidigen kann, beispielsweise bei Geistesschwäche, ist ein solcher Fall gegeben. Pflichtverteidigung heißt auch nicht, dass das Gericht zwangläufig die Auswahl des Verteidigers vornimmt. Der Beschuldigte muss viel mehr aufgefordert werden selbst einen Anwalt zu benennen, der ihm dann als Pflichtverteidiger beigeordnet wird. Der gewählte Anwalt wird durch Beschluss vom Gericht zum Pflichtverteidiger bestellt, womit der Anwalt später seine Gebühren mit der Staatskasse abrechnen kann. Diese kann im Falle der Verurteilung später beim Beschuldigten Rückgriff nehmen, sofern dieser finanziell leistungsfähig ist.

Wenn sich der Beschuldigte nach der Aufforderung des Gerichts keinen Anwalt sucht der zum Pflichtverteidiger bestellt werden soll, beispielsweise weil er oder sie, sowie im Beispielsfall die bedauerliche Blessing, keinen Anwalt kennt, so wird ihm vom Gericht ein Pflichtverteidiger bestellt, den das Gericht bestimmt. Hier kommt es jetzt immer wieder zu Problemen der verschiedensten Art. Viele Gerichte haben Listen, in die interessierte Anwälte sich eintragen können, wobei in der Regel keine Anforderungen gestellt werden nachzuweisen, dass der Anwalt strafrechtlich qualifiziert ist. So passiert es, dass ein ambitionierter Familienrechtsanwalt, dessen strafrechtliche Kenntnisse sich auf Relikte aus der Studienzeit und die Lektüre von Kriminalromanen beschränken, komplexe Strafakten „zugelost“ bekommt. Das Finale einer solchen Strafverteidigung mündet nicht selten in einem Fiasko, was den Mandanten schnell einmal ein paar Jahre seines Lebens kosten kann. Um nicht missverstanden zu werden: Der größte Teil der vom Gericht zum Pflichtverteidiger bestellten Anwälte macht einen guten Job. Es gibt aber leider noch genügend Gegenbeispiele.

Ein weiteres Dilemma ist, dass manche Richter (bei weitem nicht die meisten) sich solche Anwälte als Pflichtverteidiger aussuchen, die wegen ihrer „Beißhemmung“ berühmt sind. Gemeint ist die Unfähigkeit eine Verteidigung erforderlichenfalls auch konfliktbereit mit Gericht und Staatsanwaltschaft auszufechten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in jedem Landgerichtsbezirk Verteidiger gibt, deren schwerpunktmäßige Einnahmequelle, die ihnen zugeschanzten Pflichtverteidigungsmandate sind. Selbst kleinste Fälle bringen einen Umsatz ab 600 Euro pro Mandat. Deren „Gegenleistung“ für die Gunst vom Gericht häufig als Pflichtverteidiger bestellt zu werden, besteht dann darin, den von ihnen vertretenen Mandanten das Ablegen eines Geständnisses anzuraten, egal ob dies nach Aktenlage sinnvoll ist oder nicht. Im Juristenjargon nennt man diese Vertreter ihrer Zukunft die sogenannten „Gitterschleicher“ oder „Geständnisbegleiter“. Was diesen zumeist fehlt, ist die Bereitschaft sich zeitlich und sachgerecht für den Mandanten in dem Maße zu engagieren, wie es das Mandat angesichts der drohenden Strafe und der Auswirkung für das zukünftige Leben des Mandanten verlangt.
An einen solchen Anwalt war wohl auch Blessing geraten. Sie hatte mangels Kenntnis irgendwelcher Anwälte keinen Verteidiger benennen können und so wurde ihr ein stadtbekannter „Bonvivant“, ein Kenner der guten Zigarren und Rotweine, zum Pflichtverteidiger bestellt, der es über acht Wochen nach der Inhaftierung nicht auf einen Besuch in die Haftanstalt geschafft hatte, um die Rechtsanlage und die Perspektiven mit ihr zu erörtern. Es ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass mit der Pflichtverteidigung auch „Pflichten“ einhergehen., wozu selbstverständlich die umfassende Beratung in der Haftanstalt gehört. Hierzu sind fast immer mehrfache Besuche im Gefängnis unerlässlich. Die Schwierigkeit, die sich für Blessing nun ergab war die, den Pflichtverteidiger wieder loszuwerden. Über Geldmittel, um mich zu bezahlen, verfügte sie nicht. Und so bleibt nur der Weg, beim Gericht einen Pflichtverteidigerwechsel zu beantragen, der nur in Ausnahmefällen vorgenommen wird, nämlich bei groben Pflichtverstößen des Pflichtverteidigers. Ein solcher lag hier vor, so dass ich die Verteidigung vor Gericht letztlich doch führen konnte.

Blessing hat vom Landgericht eine Freiheitstrafe von drei Jahren ohne Bewährung bekommen. Sie hat ihre Haftstrafe verbüßt. Mittlerweile befindet sie sich wieder in ihrer Heimat. Was aus ihr und ihren Geschwistern wurde, weiß ich nicht. Ich sehe meist nur Ausschnitte einer Biografie, vielleicht ist das auch besser so. „Bodypacker“ werden von den Gerichten hart bestraft. Nachahmer sollen abgeschreckt werden. Vergleichsweise, kam Blessing noch milde davon, was sich bei dem Blick auf das Spannungsverhältnis ihrer Notlage und einer mehrjährigen Haftstrafe nicht ohne weiteres erschließt. Aber ohne akribische Aufarbeitung aller strafmildernden Gesichtspunkte bei der Vorbereitung der Verteidigung wären es wohl noch einige Jahre mehr geworden. Was bleibt ist das Sprichwort „Auf offener See und bei Gericht ist man in Gottes Hand“. Letzteres leider manchmal auch wegen des Pflichtverteidigers.