„Über allen Gipfeln ist Ruh“ – Der Fall „Raven Vollrath“

von Rechtsanwalt Christoph Rühlmann aus Düren, Fachanwalt für Strafrecht
erschienen in der DNS 10/2016

Eine Tragödie in vier Akten
Erster Akt: Ilmenau ist eine beschauliche Stadt. Idyllisch gelegen, an den Hängen des Thüringer Waldes, wusste schon Goethe, der in Ilmenau zeitweilig als Minister wirkte, die Reize der Natur zu schätzen. Über Ilmenau thront majestätisch sein dicht bewaldeter Hausberg, der „Giggelhahn“, von dessen Höhen man bei klarem Wetter bis weit in die sächsische Ebene blickt.
Hier auf dem „Giggelhahn“ schrieb Goethe, inspiriert durch die überwältigende Natur, sein berühmtes „Wandrers Nachtlied“, dessen erste Zeile: „Über allen Gipfeln ist Ruh“, die Stimmung, die auch heute noch zu spüren ist, am besten beschreibt. Raven Vollrath (25) kam aus Ilmenau und liebte seine Heimat. Er durchstreifte mit Leidenschaft die urwüchsigen Weiten des Thüringer Waldes, erklomm die Höhen des „Giggelhahns“ und fühlte sich durch und durch wohl, dort wo er lebte. Er wohnte noch zu Hause, bei seinen Eltern Maryon und Günther, zu denen er ein inniges Verhältnis pflegte und die ihn nach Kräften bei Allem unterstützten. So auch, als es für Raven schwer wurde, in seinem Beruf in Thüringen einen ordentlichen Job zu finden. Er wollte unbedingt Arbeit finden, weshalb er sich im Winter 2005 entschloss, wie viele andere junge Leute aus den neuen Bundesländern auch, einen Saisonjob im Skizirkus der Tiroler Alpen zu suchen. Ein Bekannter aus einem Nachbarort, Markus (20) und seine Mutter waren vorangegangen. Sie hatten in Zöblen, im beschaulichen Tannheimer Tal, einen Job an einem Schlepplift gefunden und dort sollte auch Raven Geld verdienen können, weshalb er zwei Tage vor Heilig Abend mit seinem kleinen Auto und ein paar Habseligkeiten dort eintraf. Maryon und Günther Vollrath hatten ihren Sohn nur schweren Herzens so kurz vor Weihnachten ziehen lassen, aber sie akzeptierten klaglos, dass die Arbeit in diesem Jahr der Familie vorgehen musste. In der ersten Telefonaten berichtete Raven ihnen begeistert von dem schönen Schnee im Tannheimer Tal und dem freudigen Wiedersehen mit Markus und dessen Mutter. Bis er ein eigenes Zimmer gefunden habe, werde er mit Markus und seiner Mutter im Liftgebäude der „Rohnenlifte“, einem holzgezimmerten Bretterverschlag, auf seiner mitgebrachten Matratze schlafen können. Er hörte sich munter und hoffnungsvoll an, als seine Eltern zum letzten Mal mit ihm telefonierten. Das war am 23. Dezember 2005. Danach
hörten Maryon und Günther Vollrath nichts mehr von ihm. Er rief nicht am Heiligen Abend an, nicht am ersten und zweiten Weihnachtstag, nicht danach. Sein Handy war ausgeschaltet, alle verzweifelten Versuche seiner Eltern ihn zu erreichen, gingen fehl. Höchst besorgt fuhren seine Eltern nach Zöblen um nach ihm zu suchen. Sein Auto stand unverschlossen vor dem Liftgebäude, seine Schuhe und einen Socken fanden sie im Kofferraum. Aber von Raven keine Spur! Nein, meinte Markus stockend zu den Eltern, er wundere sich auch. Am 23. seien er, Raven und seine Mutter noch ein paar Bier in einer Gaststätte trinken gegangen und danach hätten er und Raven sich in einem Raum schlafen gelegt. Raven habe auf seiner Matratze geschlafen, die Mutter ín einem Nachbarraum. Nachts sei Raven plötzlich aufgebrochen. Wohin, wisse er nicht. Vielleicht zu einem Mädchen, dass er kennengelernt habe. Seine Matratze habe er mitgenommen. Maryon und Günther Vollrath starteten eine Suchaktion. Sie hängten Steckbriefe auf, befragten Einheimische, nervten die Polizei und versuchten es mit Aufrufen über die örtliche Presse. Raven blieb verschwunden!

Zweiter Akt: Als ein Ehepaar aus Jülich im Juni 2006 durch das Tannheimer Tal wandert, nehmen sie auf einer Brücke, die über das Steinbett eines ausgetrockneten Schmelzwasserbaches führt, einen beissenden Geruch wahr. Der Blick in das Bachbett bietet einen schauerhaften Anblick. Umwölkt von Myriaden von Fliegen, liegt dort ein mumifizierter, von Wildfraß entstellter Leichnam. Die Bekleidung ist zerrissen, daneben findet man einen Schuh. Es ist das Gegenstück zu jenem Exemplar, dass die Eltern im Kofferraum von Ravens unverschlossen vor dem Liftgebäude abgestellten Auto gefunden haben. Der DNA-Abgleich bringt die furchtbare Gewissheit und nimmt den Eltern die letzten Hoffnungen. Ravens letzte Reise führte nach Tirol. Die Berge, die er so liebte waren sein Schicksal. Maryon und Günther Vollrath weigern sich indes an einen Schicksalsschlag zu glauben. Auch dann, als die Tiroler Behörden nach der Obduktion die Akten schließen. Im Oberschenkelgewebe konnte Blutalkohol nachgewiesen werden, knöcherne Verletzungen findet man nicht. Natürliche Todesursache durch Erfrieren, so lautet die These. Raven sei angetrunken vom „Rohnenlift“ aufgebrochen, habe seine Matratze mitgenommen (die beim Leichnam nicht gefunden wurde) und schließlich erfroren. Ein dunkler Verdacht keimt in Vollraths auf. Ein Gefühl, dass sich rasch zur Gewissheit verdichtet. Raven wurde umgebracht! Weshalb sonst fand man nur einen Schuh bei ihm und den anderen im Auto? Weshalb hätte er aus dem Liftgebäude mit einem Schuh am Fuß, die Matratze geschultert, mitten in der Nacht aufbrechen sollen? Weshalb hat ihnen Markus, von seinem
Verschwinden nicht berichtet, obwohl Ravens Auto vor dem Liftgebäude geparkt stehen blieb? Sie schalten einen ortsansässigen Anwalt ein, fahren viele Male selbst von Ilmenau nach Tirol um Nachforschungen anzustellen, sie setzen Himmel und Hölle in Bewegung um weitere Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft durchzusetzen. Erfolglos, vielfach schlägt ihnen blanke Abneigung entgegen. Sie schadetem dem guten Ruf des Tannheimer Tals, so hören sie es des Öfteren. Die Akte bleibt geschlossen. Sie beschließen nicht aufzugeben. Das sind sie Raven schuldig.

Dritter Akt: Der Schwurgerichtssaal des Nürnberger Gerichts ist an Imposanz kaum zu übertreffen. Hier fanden die Nürnberger Prozesse gegen die Naziverbrecher des Dritten Reiches statt und man kann sich der Wucht des Saals und der hohen endlosen Gerichtsflure kaum entziehen. Ich bin froh, als an diesem kalten Januartag der letzte Vorhang des Schwurgerichtsprozesses fällt, an dem ich die letzten Monate als Anwalt teilgenommen habe und ich im hektisch wuselnden Schwarm von Medienvertretern, Prozessbeobachtern und den Mandanten aus dem Saal in den Gerichtsflur trete. Ich nehme wahr, wie das gleißend helles Licht der RTL-Kamera den Staatsanwalt in seiner schneidigen Robe in einem weißen Kegel gefangen zu halten scheint, als mein Blick auf einen Mann und eine Frau fällt, die unbeachtet von den Presseleuten, nebeneinander auf einer Bank sitzend, in meine Richtung schauen. Sie halten ein Schild hoch, dass das Bild eines hübschen jungen Mannes zeigt und die Unterschrift trägt: „Was geschah mit Raven Vollrath?“. Sie wirken in den riesigen steinernen Hallen verloren, aber irgendwie trotz aller Zerbrechlichkeit auch stark und unnachgiebig. Es sind Maryon und Günther Vollrath, die mich eine Stunde später in der düsteren Gerichtskantine im Souterrain bitten werden, ihr Mandat zu übernehmen. Der Auftrag? Die Justiz zwingen, herauszufinden: „Was geschah mit Raven Vollrath?“
Schnell wird mir klar, dass die These des Erfrierungstodes brüchig wirkt. Zu viele Ungereimtheiten gibt es, so wie die mit den Schuhen. Auffällig aber vor allem, dass Markus davon sprach, seine Mutter habe in einem anderen Raum geschlafen als er und Raven. Eine polizeiliche Nachschau im Liftgebäude hat nämlich ergeben, dass es nur einen Schlafraum im Gebäude gab. Eine Merkwürdigkeit, die von der Polizei nicht hinterfragt wurde. Auch wurde Markus Mutter überhaupt nicht zu Ihren Erinnerungen polizeilich vernommen. Die Ermittlungen wirkten schlicht unvollständig und schlampig geführt. Ein Foto des Hemdes, das an Ravens Leichnam gefunden wurde, zeigte eine dreieckige Stoffverletzung. Verursacht durch einen Messerstich? Wir vermuten es! Das Hemd wurde
durch die Tiroler Staatsanwaltschaft aber zwischenzeitlich verbrannt. Die Bemühungen um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen verlaufen in den nächsten Wochen zäh. Es gelingt schließlich doch, auch Dank eines Journalisten vom ORF, der nicht an den Kältetod glaubt und die Sache kritisch hinterfragt. Nach großem Druck auf die Behörden, den wir schließlich aufbauen können, wird Markus` Mutter, sie wohnt zwischenzeitlich in Kempten im Allgäu , doch noch polizeilich vernommen.
Es gibt diese Nachrichten, von denen man noch Jahre später weiß, wo man sie erfahren hat. So wie die von „Nine Eleven“, als mich die Schocknachricht durch die Sekretärin meines Rechtsanwaltskollegen just erreichte, als ich im Begriff war mein Büro zu verlassen. „Das Pentagon brennt“, schrie sie schriller Stimme und es ließ mir das Blut gefrieren. Ich befuhr gerade die A4 von Köln in Richtung Olpe und war auf der Höhe der Abfahrt Gummersbach, als mich meine Bürokraft Heike ans Telefon bekam. Ihre Stimme brach, als sie in den Hörer stammelte: „Markus` Mutter hat bei der Polizei ausgesagt. Markus hat Raven erstochen!“ Mir schien, als bliebe die Erde für ein paar Sekunden stehen.
Einige Monate später begann der Prozess gegen Markus vor dem Landgericht Meiningen und ich vertrat Maryon und Günther als Nebenklageverteter. Markus befand sich in Untersuchungshaft und es bahnte sich ein Indizienprozess an, da er von seinem Schweigerecht Gebrauch machte. Seine Verteidigung zog die Glaubwürdigkeit der Mutter in Zweifel. Wie sich herausgestrell hatte, war sie eine Trinkerin und in der Vergangenheit mehrfach in psychiatrischer Behandlung gewesen. Nach allem, was Vollraths bereits erreicht hatten, wäre ein Freispruch aus Mangel an Beweisen schwer zu verkraften gewesen. Wir besuchten den bekannten Biologen „Dr. Made“, Mark Benecke, in Köln, der Vollrath`s zu einer Exhumierung von Raven riet, der auf dem hübschen Ilmenauer Friedhof seine letzte Ruhe gefunden zu haben schien. Der Prozess lief bereits einige Wochen und wie mir diskret zugetragen wurde, war eine Verurteilung, allein auf die Aussage der Mutter hin, unwahrscheinlich. Es drohte der Freispruch, – als die Bombe platzte! Die genaue Untersuchung des Skeletts zeigte Verletzungen des Brustbeins und einer Rippe, wie sie typischerweise durch Stichverletzungen entstehen. Nach 15 Verhandlungstagen fällte das Landgericht Meiningen am …sein Urteil: 8 Jahre Jugendstrafe wegen Totschlags an Raven Vollrath.

Vierter Akt: Es ist der 30. August 2016 und ich sitze bei Maryon und Günther in Ilmenau im Garten. Es ist nicht mein erster Besuch in den letzten Jahren. Zwischen uns ist eine Freundschaft entstanden, es gibt da dieses gemeinsame Band abseits meiner beruflichen Befassung mit der Sache. Ich bin eigentlich Strafverteidiger, vertrete also regelmäßig die Täter vor Gericht. Der tiefe Einblick in das Leiden der Familie, es war eine spezielle Erfahrung. Wir grillen Thüringer Würstchen und trinken das würzige Herschdorfer Bier der örtlichen Brauerei. Unbeschwert ist die Stimmung trotzdem nicht, sie wird es auch nie sein. Vor ein paar Wochen wurde Markus aus der Haft entlassen. Er hat seine Strafe verbüßt. Bis auf den letzten Tag, auch weil er sich nie zur Tat bekannt hat. Er wohnt jetzt nur einige Kilometer von Ilmenau entfernt und Maryon und Günther quält der Gedanke, ihm im Supermarkt, im Amt oder beim Bäcker über den Weg zu laufen. Würden sie ihn erkennen? Falls ja, wie wird die Reaktion sein? Wie waren Ravens letzte Minuten? Fragen über Fragen, die bleiben. Am Vormittag war ich mit Beiden auf dem „Giggelhahn“, dort wo in der Schutzhütte noch Goethes Gedicht zu lesen steht:

„Über allen Gipfeln ist Ruh.
In allen Wipfeln
spürest Du
kaum einen Hauch:
Warte nur. Balde ruhest Du auch.“